EU-Führerschein ab 70: Verkehrsexperte plädiert für mehr Checks von älteren Autofahrern
Die EU-Kommission will künftig die Fahrtauglichkeit aller Autofahrer und Autofahrerinnen über 70 Jahre regelmäßig prüfen. Viele Senioren sind gekränkt. Schätzen sie die Gefahren richtig ein?
Brüssel – Sollten Senioren regelmäßig ihre Fahrtüchtigkeit prüfen lassen müssen?Diese Diskussion erhitzt die Gemüter: Die einen sehen es als Diskriminierung an, die Fähigkeiten älterer Personen pauschal infrage zu stellen. Die anderen finden, ältere Menschen überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten zu oft, was im Straßenverkehr zu vermeidbaren Unfällen führt. So oder so: Die EU-Kommission will einem Gesetzesentwurf zufolge, dass alle Autofahrer über 70 Jahren regelmäßig bestätigen, dass sie noch in der Lage sind, Auto zu fahren. Wie genau sie das tun, ist Sache der Mitgliedsstaaten. Heißt: Es reicht auch eine Selbsteinschätzung.
EU-Führerscheinrichtlinie tritt frühestens 2025 in Kraft
Anlass ist das ehrgeizige Ziel der EU, bis 2030 die Zahl der Verkehrstoten zu halbieren. Dazu soll eine Novellierung der EU-Führerscheinrichtlinie helfen, die viele Standards in den verschiedenen Mitgliedsstaaten vereinheitlichen soll. Der erste Entwurf wurde nun vorgelegt. Bis Ende April haben die Mitgliedsstaaten Zeit, Änderungswünsche zu melden. Innerhalb der nächsten zwei Jahre soll dann nach und nach ein finales Gesetz entworfen werden. Nach Beschluss hätten die EU-Mitglieder fünf Jahre Zeit, die Richtlinie umzusetzen. Das Gesetz wird also frühestens im Jahr 2025 in Kraft treten, bis 2030 müssten die Regeln hier in Deutschland angewandt werden.
Sind Senioren eine Gefahr im Straßenverkehr?
Anhand einer aktuellen Statistik ist zu erkennen, dass ältere Menschen eher selten in Verkehrsunfällen verstrickt sind. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) waren 14,5 Prozent aller Personen, die 2021 einen Verkehrsunfall hatten, über 65 Jahre alt. Sind Senioren in einen Unfall involviert, dann erleiden sie in der Regel schwerere Unfallfolgen als jüngere. Das liegt unter anderem daran, dass sie häufiger als Fußgänger am Straßenverkehr teilnehmen.
Allerdings waren laut Destatis Autofahrer über 65, die einen Verkehrsunfall haben, in mehr als zwei Drittel der Fälle an dem Unfall schuld. Bei den über-75-Jährigen waren sogar 75,9 Prozent. Das bedeutet: Ältere Menschen sind zwar seltener in Unfällen verwickelt, wenn es aber passiert, sind sie meistens auch dran schuld.

Verkehrsexperte: Verpflichtende Fahrchecks führen zu Verschlechterung des Gesundheitszustands
Wie geht man also mit diesen Informationen um? Im Gespräch mit FR.de von Ippen.Media erklärt Fahreignungsgutachter Thomas Wagner von der Prüforganisation Dekra, dass bereits mehrere Studien nachweisen, dass die Pflicht zur regelmäßigen Überprüfung der Fahrtauglichkeit von Senioren große Probleme bereiten kann.
„Die Evaluationsstudien können einen Zuwachs an Verkehrssicherheit nicht belegen und fallen desaströs aus, wenn man die Folgen näher betrachtet.“ Senioren hätten häufig so große Angst vor dem Test, dass viele sich dazu entscheiden, lieber freiwillig auf den Führerschein zu verzichten. Und das hat laut Wagner wiederum Konsequenzen für die Gesundheit der Senioren: „Der Gesundheitszustand verschlechtert sich, es treten häufiger Depressionen auf, der allgemeine Gesundheitszustand verschlechtert sich, denn der Verlust des Führerscheins bedeutet ein Stück weit Verlust der Identität“, erklärt Thomas Wagner.
Über 75-Jährige verursachen immer mehr Unfälle
Allerdings müsse sich aus Sicht des Gutachters dennoch etwas verändern. Im Verkehrssicherheitsreport der Dekra, das im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, stellten die Prüfer fest, dass die Zahl der selbstverschuldeten Unfälle bei den über 75-Jährigen nun das gleiche Niveau erreicht hat, wie die Unfälle verursacht durch 18- bis 25-Jährige. In einer alternden Gesellschaft können wir davon ausgehen, dass sich das Problem nur verschärfen wird.
Dass die Unfallgefahr mit dem Älterwerden wächst, ist laut Thomas Wagner ganz natürlich. Schließlich hat das Älterwerden auf Sachen wie die Reaktionsfähigkeit großen Einfluss. „Noch dazu kommt, dass ältere Menschen mehr Erkrankungen haben, es kommen also Medikamente ins Spiel. Verschiedene Medikamente können einander beeinflussen und das hat auch Einfluss auf die Fahrsicherheit“, erklärt der Verkehrsexperte.
Dekra: Personen mit Demenz sollten niemals Auto fahren
Zur traurigen Wahrheit gehört es auch, dass die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, mit dem Alter steigt. Laut Thomas Wagner ist jeder dritte Mensch über 90 Jahren mit Demenz konfrontiert. Und: „Selbst bei einer milden Form der Demenz reichen die Fähigkeiten fürs Autofahren nicht mehr aus“, sagt Wagner. „Ihr Verkehrsverhalten ist leider unberechenbar und daher sind sie kaum noch in der Lage, die Grundregeln im Straßenverkehr einzuhalten.“
In Deutschland dürfen Ärzte die Fahrerlaubnis ihrer Patienten nicht entziehen. Sie dürfen wegen der Schweigepflicht auch keine Behörde kontaktieren. Das ist auch wichtig. Aber im Fall dementer Patienten führt das auch dazu, dass Personen, die nicht mehr fahren sollten, sich weiterhin ans Steuer setzen. Ärzte haben eine Aufklärungspflicht. Aber mehr Handhabe gibt es nicht. Die Behörden können die Fahrerlaubnis erst dann entziehen, wenn der Unfall schon geschehen ist.
Hier schlug der Verkehrsgerichtstag in Goslar Ende Januar vor, dass Ärzte ein Melderecht bekommen. Damit könnten sie als ultima ratio eine Behörde kontaktieren, wenn sie der Meinung sind, dass ein Patient nicht mehr am Steuer sitzen sollte. Dieses Melderecht erhielten sie aber nur dann, wenn sie vorher mit dem Patienten aufklärende Gespräche geführt haben.
Prinzip Freiwilligkeit ist besser als Pflicht: Wie man mit dem Problem fertig wird
Das Problem ist also real: Je älter ein Mensch wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass er nicht mehr am Steuer sitzen sollte. Zugleich führen verpflichtende Fahrchecks für Senioren laut verschiedenen Studien nicht unbedingt zu mehr Sicherheit. Was also tun?
Thomas Wagner hat Vorschläge. Dabei gilt zunächst: Freiwilligkeit ist besser als Pflicht. Es sollte seiner Ansicht nach aber eine Mischung aus beidem geben. Aus seiner Sicht gebe es gute Gründe, „ab dem 75. Lebensjahr was zu tun“. Freiwillige Mobilitäts-Checks gibt es für ältere Autofahrer auch schon, bloß werden sie zu wenig in Anspruch genommen. „Es kommen die Falschen, nämlich die, die fit sind und ein Gütesiegel wollen. Es kommen nicht die, die es brauchen“, erzählt der Experte. Zahlen kann er keine nennen, der ADAC konnte da aber behilflich sein.

Der Automobilklub bietet für Senioren „Fahr-Fitness-Checks“ an. Dabei können die Personen mit einem Fahrlehrer eine 45-minütige Fahrt buchen. Danach gibt es eine Auswertung mit Tipps, was der Fahrende tun sollte. Laut ADAC sind die meisten Teilnehmenden zwischen 75 und 80 Jahren. 2022 fanden demnach 1738 solche Fahrchecks statt, das war im Vergleich zum Vor-Pandemie-Niveau niedrig. Vor 2020 lag die Zahl der jährlichen Checks bei zwischen 2400 und 3300. Laut ADAC sei diese Zahl aber „sicherlich noch ausbaufähig“.
Es muss also einen Weg geben, die freiwillige Maßnahme attraktiver zu machen und mehr ältere Menschen dazu zu bringen, ihre Fähigkeiten zu überprüfen. Eine Idee wäre laut Thomas Wagner ein Bonus-System. Man könnte eine verpflichtende Maßnahme, beispielsweise eine Rückmeldefahrt, ab 75 einführen. Wer aber als über-70-Jähriger schon freiwillig daran teilnimmt, könnte den Zeitpunkt der verpflichtenden Fahrt um zwei Jahre nach hinten schieben. Diese Personen müssten also erst mit 77 Jahren den Pflicht-Check ihrer Fahrkompetenz mitmachen. Die Senioren bekämen also zwei oder drei Jahre „gutgeschrieben“.