Fachkräftemangel: Dachdeckermeisterin wirbt für Frauen im Handwerk – und räumt mit Vorurteilen auf

Könnten mehr Frauen im Handwerk dem Fachkräftemangel entgegenwirken? Dachdeckermeisterin Stephanie Kühnel-Grasberger ist davon fest überzeugt.
München – Der Fachkräftemangel im Handwerk ist enorm. In nahezu jeder Branche fehlt es an qualifizierten Arbeitskräften und auch Ausbildungsplätze bleiben immer häufiger unbesetzt. Besonders in körperlich herausfordernden Berufen wie Maurer oder auch Dachdecker kommt noch hinzu, dass sich kaum Frauen in die von Männern dominierten Branchen trauen.
Frauen im Handwerk: Dachdeckermeisterin setzt sich dafür ein
Doch es gibt auch Frauen, die das Gegenteil beweisen. So wie Stephanie Kühnel-Grasberger. Sie ist Dachdeckermeisterin und führt ihren eigenen Betrieb. Sie setzt sich dafür ein, auch Frauen im Handwerk einen Platz zu geben und deren Präsenz zu zeigen. So beispielsweise bei der Messe Zukunft Handwerk, welche vom 8. bis 10. März in München stattfindet. Im Interview mit Merkur.de erzählt Kühnel-Grasberger unter anderem von den Herausforderungen, denen sie in ihrer Laufbahn begegnet ist und warum Frauen im Handwerk gerade jetzt so wichtig sind.
Frau Kühnel-Grasberger, als Dachdeckerin arbeiten Sie in einem von Männern dominierten Beruf. Hatten Sie deshalb Bedenken, bevor Sie diesen Weg eingeschlagen haben?
Die Idee, dass ich Dachdeckerin werden könnte, ist bei mir erst sehr spät aufgekommen. Mein Papa ist Dachdecker und hat eine Dachdeckerei. Es stand nie zur Debatte, dass seine Tochter irgendwann mal diesen Beruf erlernt – geschweige denn, den Betrieb übernimmt. Vor meiner Dachdecker-Lehre habe ich eine Ausbildung zur Arzthelferin gemacht. Wirklich Spaß gemacht hat mir das nicht. Als meine Lehrzeit in der Praxis zu Ende war, hat mein jüngerer Bruder eine Ausbildung zum Zimmerer begonnen und beim Abendessen davon erzählt. Dabei meinte er, „Stephie, dort werden auch Dachdeckerinnen ausgebildet. Fang doch auch dort an.“ Daraufhin meinte meine Mama: „Wenn du Dachdeckerin werden willst, dann kannst du doch gleich beim Papi im Betrieb anfangen.“ Ich habe meinem Papa dann ganz offiziell eine Bewerbung geschrieben. Den ersten Satz weiß ich noch immer: „Sehr geehrter Herr Kühnel, wie unschwer zu erkennen ist, bin ich weiblich, jedoch möchte ich es trotzdem wagen, das Dach zu erklimmen.“
Wie ging es für Sie nach der Ausbildung weiter?
Direkt nach der Ausbildung habe ich 2009 meinen Meister abgeschlossen. 2015 ist mein Papa an einem Sekundentod gestorben und ich habe von jetzt auf gleich den Betrieb übernommen. Dieser Schicksalsschlag hat uns alle völlig unvorbereitet und mit aller Härte getroffen. In dieser ganzen Zeit ist aber nie der Gedanke aufgekommen, dass ich das nicht kann, weil ich eine Frau bin – niemals! Bedenken bezüglich meiner Berufswahl wären hier fehl am Platz gewesen. Davor nicht und erst recht nicht während dieser herausfordernden Jahre.

Frauen im Handwerk: „Musst dir auf dem Bau ein dickes Fell zulegen“
Wie wurde Ihnen in der Berufsschule begegnet? Gab es Vorurteile oder Hürden, die Sie aufgrund Ihres Geschlechts überwinden mussten?
Grundsätzlich musst du dir auf dem Bau ein dickes Fell zulegen. Unabhängig davon, ob du Mann, Frau oder Divers bist. Vom Konzept her wird in der Schule auch immer versucht mehrere Mädels in einer Klasse zu haben. Laut den Lehrkräften hat die Erfahrung gezeigt, dass die Klassen dadurch insgesamt ruhiger und hilfsbereiter werden. Hin und wieder kommst du als Frau an deine körperlichen Grenzen, das bleibt nicht aus. Letztendlich haben die Jungs aber auch gesehen, dass wir Mädels auch ans Ziel kommen.
War die Situation in der Meisterschule genauso?
In der Meisterschule war es etwas anders. Ich bin jemand, der sich gerne schminkt und das auch auf der Baustelle. Ich stehe zu meinen langen Fingernägeln – am liebsten knallrot. Da kamen von dem ein oder anderen Meister natürlich auch Kommentare wie „Die Barbie schafft es ja eh nicht“. Das hat mich schon sehr getroffen. Was aber letztendlich dazu geführt hat, dass ich sehr fokussiert für meine Meisterprüfungen gelernt habe. Rückblickend bin ich sogar dankbar für die dummen Sprüche. Sie waren mein Ansporn, es jetzt erst recht zu schaffen. Man darf sich diese Gemeinheiten nicht zu sehr zu Herzen nehmen.
Dachdeckermeisterin: „Es braucht sichtbare Vorbilder“
Im Jahr 2021 waren nur 10,6 Prozent der Erwerbstätigen in Handwerksberufen weiblich. Woran liegt das, dass Frauen sich so selten in handwerkliche Berufe wagen?
10,6 Prozent empfinde ich als nicht so wenig – vor allem, weil die Tendenz steigend ist. Für mich spiegeln sich in dieser Entwicklung die jeweiligen Haltungen der Generationen wider: Zu Großvaters Zeiten war es sicher noch so, dass die überwiegende Einstellung war: „Frau im Handwerk? Niemals“. Ganz früher war es den Frauen sogar verboten, das Dachdeckerhandwerk zu erlernen. Viele Dachdeckerinnen um die 50+ haben sich noch heimlich in den elterlichen Betrieben ausbilden lassen – ohne Berufsschule. Was viele vergessen: Nach dem Krieg waren Frauen maßgeblich an dem Wiederaufbau der Häuser beteiligt, weil es einfach zu wenig Männer gab. Diese Tatsache lässt man oft unter den Tisch fallen und es hat sich lange das Vorurteil gehalten, dass eine Frau im Handwerk nichts verloren hat. Meine Generation hat die Einstellung: Ich kenne Handwerkerinnen, finde ich super – toll, dass sie sich das zutrauen. Es werden langsam immer mehr Handwerkerinnen, aber es braucht seine Zeit und vor allem sichtbare Vorbilder.
Denken Sie, Frauen fühlen sich zu „schwach“, um Berufe wie beispielsweise Maurer oder Dachdecker auszuüben? Das ist schließlich ein in älteren Generationen sehr verfestigtes Rollenbild.
Es kann unter Umständen sein, dass dieses Gefühl „Du kannst das nicht“ von den Eltern oder Großeltern vermittelt wird. Auch ich höre recht oft diesen Spruch. Es stimmt: Der Job ist körperlich sehr anstrengend und alles andere als ein Zuckerschlecken. Letztendlich ist es aber so: Wenn eine Frau ein echtes Interesse hat, dann probiert sie es auch aus und sie wird selbst herausfinden, ob sie wirklich zu schwach dafür ist. Und natürlich gibt es auch Mädels, die sich nach einem Praktikum ganz klar gegen den Beruf entscheiden. Es ist kein Geheimnis, dass eine Frau, schon rein aus anatomischen Gründen, nicht so viel Kraft und Muskeln haben kann wie ein Mann. Das ist einfach so. Aber man braucht im Dachdeckerhandwerk nicht nur Kraft. Zudem gibt es inzwischen viele Maschinen, die die Arbeit um einiges erleichtern.
Haben Frauen im Handwerk dieselben Chancen wie Männer? Besonders wenn es um Führungspositionen geht, ist es nicht selten der Fall, dass Frauen belächelt werden.
Ich persönlich habe nicht das Gefühl oder die Erfahrung gemacht, dass es für Frauen sehr viel herausfordernder ist an Führungspositionen zu kommen. Ich kenne sehr viele Frauen in Führungspositionen, wie beispielsweise selbstständige Meisterinnen oder Bauleiterinnen, die Baustellen mit 20- bis 40.000 Quadratmetern Flachdacharbeiten leiten und entsprechend mehrere Mitarbeiter führen müssen. Was bei einer Führungsposition zählt, sind das Fachwissen und Führungsqualitäten. Hinzu kommt, dass der Faktor Kraft, bei dem uns die männlichen Kollegen oft überlegen sind, gerade in einer Führungsrolle mehr in den Hintergrund tritt. Leiten, delegieren und führen zu können erfordert viel Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl. Ich wage mal zu behaupten, dass diese Qualitäten vielen Frauen vielleicht etwas besser liegen als so manchen männlichen Kollegen (lacht). Grundsätzlich gilt für beide Geschlechter: Sie müssen es draufhaben – sonst geht da gar nix!
Fachkräftemangel im Handwerk: Frauen könnten Abhilfe schaffen
Wie überzeugt man als Betrieb eine Frau für eine Ausbildung in einer Männerdomäne?
Betriebe, die bereits Frauen beschäftigen und das auch nach außen kommunizieren, sind dabei klar im Vorteil. Auch die Teilnahme an Aktionen wie beispielsweise dem Girlsday machen den Betrieb für die jungen Frauen sichtbar. Entscheidend ist hier der Charakter des Chefs. Wie offen steht er Frauen im Handwerk gegenüber und wie viel liegt ihm daran, den Mädels neben Offenheit, mit Ehrlichkeit und vor allem mit Vertrauen zu begegnen.
Der Fachkräftemangel im Handwerk ist enorm. Könnte ein gesteigerter Frauenanteil in der Branche hier Abhilfe schaffen?
Dazu von mir ein ganz klares „Ja“! Die Unternehmen und Betriebe müssen noch offener werden und die Fühler weiter ausstrecken.

Warum sollten sich Betriebe bei der Wahl eines Auszubildenden für eine Frau entscheiden, wenn es auch männliche Bewerber gibt? Schließlich sind diese rein aus anatomischen Gründen oft leistungsfähiger.
Es ist kein Geheimnis, dass viele Handwerksberufe körperlich anstrengend sind. Das heißt, wenn eine junge Frau sich für diesen Beruf entscheidet, dann will sie in der Regel diesen Beruf unbedingt erlernen und trifft nicht aus der Not heraus diese Berufswahl.
Was würden Sie Handwerksbetrieben in der aktuellen Situation raten?
Zeigt, welche beruflichen Chancen ihr für die jungen Frauen bereithaltet. Ganz wichtig ist es vorher ein Praktikum anzubieten, tageweise, wochenweise oder auch Ferienjobs. Dadurch wissen beide ungefähr, worauf sie sich einlassen und gerade Mädels können in dieser Zeit sehr gut abschätzen, wie aufgeschlossen Chef und Team ihr gegenüber wirklich sind und ob sie den körperlichen Anstrengungen langfristig gewachsen sind.
Und was würden Sie Frauen raten, die an einem Job im Handwerk interessiert sind?
Traut euch! Denn: Wenn du es nicht ausprobierst, wirst du auch nicht herausfinden, ob ein Handwerksberuf wirklich etwas für dich ist!