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Kein Entkommen für Wehrpflichtige: Wie Russland den Nachschub an Soldaten für den Krieg organisiert

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Einberufene der russischen Armee warten in Simferopol auf eine medizinische Untersuchung für die Wehrpflicht
Schlangestehen für medizinisches Checkup für künftige Rekruten: Russland verschärfte die Regeln für Mobilmachung und Wehrpflicht. © Konstantin Mihalchevskiy/IMAGO/SNA

Schritt für Schritt schließt Russland die Schlupflöcher, durch die sich die Männer dem Wehrdienst und auch dem Krieg in der Ukraine entziehen konnten. Moskau will trotz hoher Verluste lange weiterkämpfen.

Dieser Text liegt IPPEN.MEDIA im Zuge einer Kooperation mit dem Security.Table Professional Briefing vor – zuerst veröffentlicht hatte ihn Security.Table am 18. April 2023.

Moskau/München – Kurz nach seinem Überfall auf die Ukraine hatte Russlands Präsident Wladimir Putin den Aufbau einer digitalen Datenbank mit Wehrpflichtigen angeordnet. Dann wurde die Sollzahl von Soldatinnen und Soldaten erhöht. Vergangene Woche nun beschloss die Duma mehrere Gesetze, die die staatliche Kontrolle über alle kriegstauglichen Männer massiv ausweiten.

Konkret heißt das:

„Das Ziel dieses Gesetzes ist klar: Die Männer sollen sich in den Militärregistrierungsbüros melden“, sagt Elena Popowa. Sie koordiniert die Arbeit der Organisation „Bewegung der Verweigerer“. Sie berät Wehrpflichtige oder auch aktive Soldaten, die aus Gewissensgründen nicht dienen können oder aus dem Dienst ausscheiden wollen. Im Gespräch mit Table.Media berichtet sie, dass das Telefon nicht stillstehe, seit die neuen Gesetze verabschiedet worden seien. „Es ist nicht ganz so schlimm wie bei der Mobilmachung im vergangenen Herbst, aber es sind mehrere Hundert Anrufe am Tag.“

Empfehlung an russische Männer: „Wenn ihr könnt, reist sofort aus“

Dabei hatte Putins Regime mit viel Propaganda – sowie inoffiziellen Verboten an linientreue Medien, über Mobilmachungen zu berichten –, die Bevölkerung nach der großen Ausreisewelle Hunderttausender junger Menschen im vergangenen Jahr wieder beruhigt. Das ist nun wieder vorbei.

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In aller Deutlichkeit fasst der russische Schriftsteller Dmitri Gluchowski seine Sorgen zusammen: „Das ist ein Gesetz über das Recht des Staates, mit einer Mail jeden Beliebigen zum Tode zu verurteilen, ohne Recht auf Widerspruch. (…) Wenn ihr könnt, reist sofort aus.“

Genau das – das Ausreisen – soll aber das neue Gesetz verhindern. Es sieht zudem Strafen für diejenigen vor, die die Vorladungen ignorieren. Russland braucht menschliche Ressourcen für seinen Krieg. Die Zahl der Getöteten oder schwer Verwundeten ist unbekannt, westliche Geheimdienste gehen aber von insgesamt mehr als 220.000 aus. Weder die Rekrutierung in den Gefängnissen, noch die verstärkte Werbekampagne für Zeitsoldaten reichen aus.

Russland: Zahl der Wehrpflichtigen im Frühling ist größer als 2022

Wie viele Armeeangehörige Russland für den Ukraine-Krieg tatsächlich mobilisiert hat, ist unklar. Nach offiziellen Angaben verfügte Russland über knapp eine Million Soldaten und Soldatinnen vor dem Krieg, deren Zahl soll nun auf mehr als 1,5 Millionen steigen.

Im vergangenen Herbst wurden 120.000 Wehrpflichtige eingezogen. Seit dem ersten April und bis Mitte Juli sollen weitere 147.000 zum regulären Wehrpflichtdienst eingezogen werden – mehr als im vergangenen Frühling. Nach der Grundausbildung in den ersten Monaten, versuchen die Vorgesetzten, die jungen Männer als Zeitsoldaten anzuwerben. Dann können sie an die Front. Der Vorschlag des Verteidigungsministers Sergej Schoigu, zusätzlich die Zahl der Reservisten auf 350.000 zu erhöhen, ist aber offenbar erstmal vom Tisch.

Gesamtstärke russischer Truppen in der Ukraine ist unklar

Die Gesamtstärke der russischen Truppe in der Ukraine ist unbekannt. Unmittelbar vor dem 24. Februar 2022 sollen 190.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine gestanden haben, hinzu kommen die im besetzten Donbass, auf der Krim und in Belarus. Im vergangenen Herbst mobilisierte Russland für den euphemistisch als „militärische Spezialoperation“ bezeichneten Krieg rund 300.000.

Die neuen Gesetze sollen den stetigen Zufluss an neuen Soldaten sichern, ohne offiziell eine neue Mobilmachung im großen Stil auszurufen. Sie hatte nicht nur Hunderttausende ins Ausland getrieben, sondern auch Kritik aus der Wirtschaft laut werden lassen. Der russische Arbeitsmarkt hatte schon vor dem Krieg Personalprobleme.

Härtere Wehrpflichtregeln: Kein Widerstand in Russlands verängstigter Bevölkerung zu erwarten

Die aktuelle Reform der Vorladungen sei aber keine direkte Folge des Krieges, sondern gehe auf Pläne von 2018 zurück, sagt eine weitere Expertin einer anderen kritischen NGO, die Wehrpflichtige berät. Die Expertin möchte ihren Namen und den Namen der Organisation nicht öffentlich nennen. „Wir werden auch so schon verfolgt“, erläutert sie. Ihrer Meinung nach sei es für die Betroffenen nun wichtig, sich über ihre Rechte zu informieren. Häufig nutzten die Behörden das Unwissen der Menschen aus. Ein wichtiger und durch die Verfassung garantierter Ausweg sei etwa das Recht auf einen alternativen Dienst.

Als Putin im vergangenen September die „begrenzte Mobilmachung“ ausrief, kam es zu kleineren Protesten. Neuen öffentlichen Widerstand erwartet Elena Popowa von der „Bewegung der Verweigerer“ nun nicht. „Nein, es wird keine Proteste geben“, sagte sie. „Die Menschen sind verängstigt.“

Dass das Regime zumindest offiziell keine neue Mobilmachung ausruft, zeigt wohl die Sorge vor einer neuen größeren Auswanderung. Zudem folgten die neuen Gesetze einem einfachen Kalkül, erläutert der russische Journalist Dmitrij Kolesew: „Sehr wahrscheinlich rechnet man damit, dass die Hörigsten den Vorladungen folgen. Und selbst wenn nur 30 Prozent von denen kommen, die die Vorladungen bekommen – das reicht für eine neue Mobilmachung. Man sollte also nicht Teil dieser 30 Prozent sein.“

Von Viktor Funk

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