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Ukraine-Krieg in Karten: Ein Jahr Kampf und die tiefen Wunden im Land

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Von: Luisa Billmayer, Philipp David Pries, Marie Ries, Nils Tillmann

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Ein Soldat als Bildmontage vor drei Karten, die drei Aspekte des Ukraine-Kriegs zeigen: Zustimmung in Europa zum EU-Beitritt, markierte Punkte von Angriffen, umbenannte Straßen in Kiew.
Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Fünf Karten zeigen die Folgen aus 365 Tagen Kampf im Herzen Europas. © N. Bruckmann/M. Litzka/Sameer Al-Doumy/afp (Montage)

Ein dramatischer Verlauf, ein Blick aus dem Weltraum und auf die Hauptstadt Kiew. Neue Karten zeigen, wie stark 365 Kriegstage die Ukraine gezeichnet haben.

Kiew – Die meisten haben sich nicht vorstellen können, wie lange dieser Krieg dauern wird. Die Geschehnisse sind oft schwer greifbar. Eine Datenanalyse zeigt nun fünf unterschiedliche Seiten dieses Krieges in Karten. Dabei sind auch überraschende Blickwinkel – dass etwa Kiew viele Dutzend Straßen von russischen Namen befreit hat oder wie unzählige Kulturschätze unwiderruflich verloren gingen. Begeben Sie sich mit uns außerdem auf einen Streifzug, in dem Sie auch interaktiv die verschiedenen Etappen des Ukraine-Krieges nachvollziehen können.

Der Blick aus dem Weltraum auf den Krieg

Die Spuren des Angriffskriegs zeigen sich bereits aus großer Ferne – und teils sogar aus dem Weltraum. Mit Satelliten überwacht die Weltraumbehörde NASA Waldbrände aus dem All. Doch auch Raketenangriffe, größere Explosionen und schwerer Beschuss können durch Satelliten erfasst werden. In unserer interaktiven Karte zeigen wir die mehr als 200 Feuer, welche während der Kriegsmonate Februar bis Oktober 2022 von den NASA-Satelliten mit einer höheren Intensität und Sicherheit verzeichnet wurden.

Zwar lässt sich nicht immer mit letzter Gewissheit sagen, ob ein Datenpunkt in der Ukraine im Zusammenhang mit Kämpfen steht. Auffällig ist jedoch, dass die Feuer häufig nahe schwer umkämpfter oder beschossener Gebiete auftreten und so oft den Frontverläufen im Krieg entsprechen. Besonders deutlich werden unter anderem die Kämpfe im östlichen Donbass, aber auch rund um die Gebietshauptstadt Cherson in der südlichen Ukraine.

365 Tage Ukraine-Krieg und Zerstörung im Rückblick

In den frühen Morgenstunden des 24. Februar 2022 überqueren russische Truppen an verschiedenen Stellen die ukrainische Grenze und stoßen in wenigen Tagen weit ins Landesinnere vor. Nach einem Monat halten sie insgesamt mehr als 160.000 Quadratkilometer ukrainischen Gebiets. Dies entspricht mehr als der zweifachen Fläche Bayerns. Inzwischen hat sich das besetzte Gebiet um rund ein Drittel reduziert. Dies wird deutlich, wenn man auf unserer interaktiven Karte die Tage im Verlauf anschaut.

Die blau markierte Fläche auf der Karte zeigt alle Gebiete, in die russische Truppen seit Kriegsbeginn vorgedrungen sind, inzwischen aber nicht mehr präsent sind. Im September beispielsweise gewinnen ukrainische Truppen in der Oblast Charkiw binnen zwei Wochen ein Gebiet von der Größe Korsikas zurück. Und nach der Rückeroberung der Stadt Cherson im November kommt es an vielen Fronten vermehrt zu Stellungskämpfen. Wenn man die interaktive Karte hineinzoomt, macht sie die von Tag zu Tag sich wandelnden Frontverläufe deutlich. Ein Ende der täglichen Kämpfe ist derzeit nicht absehbar. Und solange diese anhalten, spiegelt unsere Karte auch weiterhin täglich den jeweils neuesten Stand des Ukraine-Krieges.

Zerstörung von Kirchen und Denkmälern im Ukraine-Krieg

Einschusslöcher in historischen Gebäuden, kaum wiedererkennbare Kirchtürme, Altarräume voller Trümmer – das ist vielerorts Realität in der Ukraine. Denn seit Beginn der russischen Invasion wurden etliche ukrainische Gebäude von kultureller Wichtigkeit durch Artillerie, Raketen und Drohnen beschädigt, bisweilen gar zerstört. Die UNESCO bestätigt bereits Schäden an insgesamt fast 250 Kulturstätten. Religiöse Orte sind besonders hart betroffen: Mehr als 100 Gotteshäuser wie ukrainisch-orthodoxe Kirchen, Moscheen und Synagogen wurden beschädigt. Die Dunkelziffer der betroffenen Kulturorte dürfte um einiges höher liegen. Eine ukrainische Stiftung für Kultur spricht beispielsweise schon von über 550 zerstörten Monumenten und Kulturstätten.

Die reiche Kultur der Ukraine ist eng verwoben mit der nationalen Identität des osteuropäischen Landes. Über 4000 Kulturstätten wie Museen, Theater, Bibliotheken und Gotteshäuser gibt es dort. Auch im Ukraine-Konflikt spielt die kulturelle Identität des Landes schon länger eine wesentliche Rolle: Ein Thinktank des Europäische Parlaments zum Beispiel wirft Russland in einem Dokument sogar die gezielte Zerstörung kulturellen Erbes seit der Annexion der Krim 2014 vor.

Kiew benennt viele Dutzend Straßen und Plätze um

Die einstige kulturelle Nähe zwischen der Ukraine und Russland zeigt sich auch, wenn man durch die Straßen der ukrainischen Hauptstadt läuft. So sind viele Orte in Kiew nach russischen Persönlichkeiten und Volkshelden benannt. Andere Namen im Stadtbild erinnern an besondere Ereignisse der sowjetischen Geschichte. An diesem kulturellen Erbe will die Kiewer Stadtregierung jetzt nicht mehr festhalten. Über 70 Gassen, Straßen, Alleen und Plätze wurden inzwischen umbenannt, wie unsere interaktive Stadtkarte zeigt.

Der Stadtrat von Kiew beschreibt die Maßnahme als Teil der sogenannten Entrussifizierung und Dekommunisierung, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Neben der russischen Kultur will sich die Hauptstadt demzufolge auch vom Kommunismus distanzieren. So heißt die bisherige Karl-Marx-Straße im Bezirk Darnyzkyj künftig Johann-Wolfgang-Goethe-Straße. Auch der französische Autor Jules Verne bekommt einen neuen Platz im Kiewer Stadtbild. Er löst Romain Roland ab, einen französischen Vertreter des Kommunismus.

Die Ukraine und Europa rücken zusammen

Zu den weniger greifbaren Folgen des Krieges zählt die Solidarisierung vieler Staaten mit der Ukraine. Das zeigt beispielhaft eine Eurobarometer-Erhebung im April 2022, bei der sich in fast allen Ländern der EU eine Mehrheit für die zukünftige Aufnahme der Ukraine ausspricht. Bei einer ähnlichen Umfrage im Jahr 2010 war es EU-weit nur rund ein Drittel.

Die Annäherung der Ukraine an den Westen hatte jedoch bereits vor Kriegsbeginn einen langen Vorlauf. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup zeigt, dass noch im Jahr 2009 40 Prozent der ukrainischen Bevölkerung die Nato als eine mögliche Bedrohung ansahen. Seit den Euromaidan-Protesten und der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 hat sich in Kiew jedoch ein zunehmend pro-westlicher Kurs etabliert, der durch die russische Invasion zusätzlich befeuert wurde.

Bei einer landesweiten Erhebung eines Kiewer Instituts im Sommer 2022 gaben nur noch sieben Prozent an, dass sie gegen einen Nato-Beitritt stimmen würden. Mehr als vier Fünftel befürworten zudem einen EU-Beitritt. Und viele EU-Staaten erwidern die Annäherung ihrerseits, wie die Karte zeigt. Klar ist aber für alle Beteiligten, dass dies noch ein langer Weg wird – und doch eine geringe Herausforderung im Vergleich zum Wiederaufbau, der der Ukraine eines Tages bevorstehen wird. Denn davon ist die Welt in diesen Tagen, 365 Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs, noch sehr weit entfernt.

Transparenz: Unsere Daten, Quellen, Methoden

Die Karte „Feuer nahe der Fronten“ basiert auf Daten des Waldbrand-Monitorings NASA FIRMS MODIS mit den Satelliten Aqua und Terra. Die jeweiligen Kontrollgebiete, die in der Slider-Karte dargestellt werden, werden täglich vom Institute for the Study of War (ISW) erstellt und bereitgestellt. Die ukrainischen Rückgewinne berechnen wir automatisch auf Basis der ISW-Daten. Gebietsgrößen haben wir auf Basis der oben genannten Flächendaten berechnet. Die Berechnungen basieren auf einer Pseudo-Mercator-Projektion.

Die Analyse zu den zerstörten Kulturorten basiert auf Daten der UNESCO (Stand 14.02.2023). Die Organisation prüft gemeldete Schäden und Zerstörungen nach eigenen Angaben mit mehreren glaubwürdigen Quellen. Veröffentlichungen der Kiewer Stadtregierung liefern die Basis für die Karte der umbenannten Orte in Kiew. Diese haben wir mit DeepL übersetzt und anschließend jeden Datenpunkt verortet. Eine Analyse mit dem KI-Tool ChatGPT half dabei, festzustellen, dass russische, sowjetische oder für den Kommunismus relevante Persönlichkeiten und Ereignisse durch ukrainische oder im Westen relevante Namen ersetzt wurden.

Daten zur öffentlichen Meinung zum EU-Beitritt der Ukraine basieren auf Eurobarometer Befragungen im Auftrag der EU. Die Befragungen wurden im Mai 2010 und April 2022 mit jeweils 1000 zufällig ausgewählten Teilnehmern pro Land durchgeführt. 2010 lautete die Frage: „Für jedes der folgenden Länder, wären Sie für oder gegen einen EU-Beitritt in der Zukunft?”. 2022 lautete die Frage: „Wie sehr stimmen Sie der folgenden Aussage zu? Die Ukraine sollte der EU beitreten, wenn sie bereit ist.” Für die Darstellung haben wir jeweils volle und tendenzielle Zustimmung bzw. Ablehnung zusammengefasst. Die Gallup-Umfrage wurde 2010 mit 1000 Teilnehmenden in der Ukraine durchgeführt. Die Erhebung des Kyiv International Institute of Sociology wurde im Juli per Telefon mit 2000 Teilnehmenden aus allen Teilen der Ukraine außer der Krim durchgeführt.

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