Exklusiv-Interview

Ties Rabe: Schulen in Hamburg – „Alle sind mit den Nerven runter“

  • Lars Zimmermann
    VonLars Zimmermann
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    Jens Kiffmeier
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Im Corona-Lockdown sind die Hamburger Schulen dicht. Eltern üben harsche Kritik an der Politik von Schulsenator Ties Rabe – der wehrt sich.

  • Viele Eltern fordern eine Lockerung für die Schulen im Corona-Lockdown.
  • Hamburg kehrt frühestens nach dem 15. März zum Regelbetrieb zurück.
  • Im Interview rechtfertigt Schulsenator den Hamburger Kurs.

Hamburg – Seit Wochen sind die Schulen in der Hansestadt Hamburg dicht. Doch trotz hoher Corona-Zahlen sehnen Eltern, Schüler und Lehrer die Rückkehr in den Regelbetrieb herbei. Die Aussetzung der Präsenzpflicht, die schlechte Betreuung beim Homeschooling oder die schlechte digitale Ausstattung – all das sorgt für Frust. Den Ärger bekam zuletzt Schulsenator Ties Rabe (SPD) zu spüren. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer. Viele Bundesländer wollen die Schulen wieder öffnen. In Hamburg muss Rabe jetzt den Neustart planen. Eine Herkules-Aufgabe. Im exklusiven 24hamburg.de-Interview spricht der Sozialdemokrat über gereizte Eltern und Lehrer, die Fehler der Vergangenheit und die Auswirkungen seiner Entscheidungen auf die Kinder.

Schulsenator in Hamburg:Ties Rabe (SPD)
Geboren:14. November 1960 (Alter 60 Jahre), Hamburg
Familienstand:verheiratet, drei Kinder
Beruflicher Werdegang:Lehrer am Luisen-Gymnasium Bergedorf

Der Umgang mit den Schulen im Corona-Lockdown bleibt Ländersache. Sind Sie mit den Ergebnissen des Corona-Gipfels zufrieden?

Ich hätte mir gewünscht, dass wir das Schulsystem während der Corona-Pandemie einheitlich organisieren. Stattdessen macht nun jedes Bundesland, was es will. Das ist für die einzelnen Länder die bequemste Lösung, stößt aber auf wenig Verständnis bei den Bürgern, die sich fragen, warum in Niedersachsen andere Regeln als in Hamburg oder Schleswig-Holstein gelten. Nach meiner Auffassung hätte man sich verständigen müssen. Doch das war schon vorher nicht der Fall. Zwar wurden Kompromisse gefunden. Die hielten allerdings längst nicht alle Länder ein.

Woran liegt es, dass in Sachen Schule jeder sein eigenes Süppchen kocht?

Die Emotionen kochen bei diesem Thema hoch. Die Aufgeregtheit, mit der Diskussionen geführt werden, ist vermutlich in keinem anderen Bereich ähnlich groß. Mich wundert das. Angesichts der hohen Todeszahlen unter den älteren Menschen kann ich nicht verstehen, dass wir nicht viel mehr darüber sprechen, wie wir dieses schreckliche Leid verhindern können. Stattdessen ist die Schule in allen Medien und sozialen Netzwerken das beherrschende Thema. Dieser Druck erschwert es vermutlich auch, eine einheitliche Position zu finden. Aber die Corona-Gefahren sind in anderen Lebensbereichen um ein Vielfaches höher. Die größte und wichtigste Aufgabe ist es doch, Leben zu retten. Angesichts dieser Aufgabe ist die laute und alles dominierende Diskussion über die Schule nicht vernünftig.

Muss den Schul-Lockdown organisieren: Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD). (24hamburg.de-Montage)

Wann geht der Unterricht in den Schulen wieder los?

Einige Bundesländer öffnen die Schulen bereits am 22. Februar. Das macht bei uns in Hamburg keinen Sinn, weil bei uns vier Tage später die Frühjahrsferien beginnen. Wenn die Öffnung in den anderen Bundesländern erfolgreich sein sollte, können wir am 15. März nach dem Ende unserer Ferien wieder mit der Schule beginnen.

Wer darf zuerst in die Schule?

In jedem Fall die Grundschüler und die Abschlussklassen. Ob wir mit Präsenz- oder Wechselunterricht starten, wird sich zeigen. Wir werden natürlich genau schauen, was in den anderen Bundesländern passiert. Bisher mussten wir ja in Hamburg aufgrund unserer frühen Ferien immer die Pionierarbeit für andere Länder leisten und als eines der ersten Bundesländer beginnen, nun sind wir aufgrund der Ferien einmal ganz spät dran.

„Viele Kinder verlieren schnell den Anschluss“

Ties Rabe, Schulsenator

Was passiert mit den anderen Jahrgängen?

Einige Bundesländer wollen den übrigen Jahrgängen schon Wechselunterricht anbieten. Eine Vorhersage für Hamburg ist noch zu früh. Wie die Pandemie in vier Wochen aussieht, weiß noch niemand.

Glauben Sie, dass durchgehend regulärer Unterricht vor den Sommerferien überhaupt möglich ist?

Durchgehend wohl nicht, aber regulären Unterricht würde ich auf keinen Fall ausschließen. Wenn sich die Inzidenzzahlen auf einem niedrigen Niveau stabilisieren, kann ich mir regulären Unterricht vor den Sommerferien durchaus vorstellen.

Werden Kinder abgehängt?

Ja, leider. Das wird in der öffentlichen Diskussion zu oft vergessen. Schule muss sich immer bemühen, keine Kinder abzuhängen. Das lässt sich aber selbst im normalen Schulbetrieb nicht vollständig verhindern. Wir sehen an allen Bildungsstudien, dass Kinder aus bildungsfernen Familien schnell den Anschluss verlieren. Während der Pandemie wird das allerdings wesentlich häufiger vorgekommen sein, weil wir manche Kinder nur schwer erreichen und kaum Chancen haben, auf Fehlentwicklungen einzuwirken.

Wird die soziale Ungleichheit durch das Homeschooling vergrößert?

Die soziale Ungleichheit wird durch das Distanzlernen auf jeden Fall verstärkt. Dabei spielt schon die Wohnsituation eine große Rolle. Manche Kinder haben kein eigenes Zimmer oder keinen Computer. Unter diesen Bedingungen fällt das Lernen schwer. Genauso entscheidend ist, ob die Eltern helfen können. Berufliche Gründe, Probleme mit der deutschen Sprache – es gibt viele Gründe, weshalb das längst nicht in allen Familien möglich ist. So sprechen beispielsweise 28 Prozent der Familien mit Schulkindern in Hamburg zu Hause nicht Deutsch. Wer soll dort den Kindern beim Homeschooling helfen? Der Lockdown verstärkt sehr klar die Bildungsungerechtigkeit. Es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass darüber in Deutschland so wenig diskutiert wird.

Plädiert für einheitliche Regelung in allen Bundesländern: SPD-Senator Ties Rabe. (24hamburg.de-Montage)

Wie kann man gegensteuern?

Am besten wäre es, die Schule wie in anderen europäischen Ländern wirklich zuallerletzt zu schließen. Wir sagen in Deutschland zwar immer, dass wir das tun wollen – aber tatsächlich werden die Schulen bei uns schneller und länger geschlossen als in anderen Ländern. Mit drei Maßnahmen wollen wir gegensteuern. Wir haben auch während des Lockdowns die Schulen nicht komplett geschlossen. Wer zu Hause nicht lernen kann, darf in die Schule gehen. Zusätzlich haben wir schon in den Sommerferien und den Herbstferien kostenlose Lernkurse auf freiwilliger Basis angeboten und werden das auch in den Frühjahrsferien wieder tun. So können Lernrückstände aufgearbeitet werden. Darüber hinaus arbeiten wir an Förderprogrammen, die helfen, während der Schulzeit Defizite aufzuarbeiten.

Ergebnis einer UKE-Studie ist, dass Corona bei Kindern zu erheblichen psychischen Belastungen führt. Spielt das auch für die Entscheidungen der Schulbehörde eine Rolle?

Ich hoffe, dass dieses Thema generell eine größere Rolle spielen wird. Bisher gab es nur ein geringes Interesse daran, die schwierigen Auswirkungen der Schulschließungen zu analysieren. Schule vermittelt Kindern und Jugendlichen nicht nur Faktenwissen, sondern auch eine Tagesstruktur, soziale Kontakte, soziales Lernen, Sicherheit. Schule prägt deshalb entscheidend die menschliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Wir müssen diese gesellschaftlichen Folgen der Schulschließungen stärker berücksichtigen. Es ist niemandem gedient, wenn wir Maßnahmen einleiten, die kurzfristig das Virus etwas eingrenzen, langfristig aber viel mehr Menschen ins Unglück stürzen. Deshalb müssen wir unsere Entscheidungen sorgfältig abwägen.

Wir sind alle mit den Nerven ziemlich am Ende.

Ties Rabe, Schulsenator

Sie mussten in den vergangenen Monaten viel Kritik einstecken. Ärgern Sie sich darüber?

Die emotionalen Debatten erschweren es, zu vernünftigen Lösungen zu kommen. Die Schulöffnung wurde von den Verbänden, der Öffentlichkeit und den Medien heftig kritisiert. Jetzt sind die Schulen geschlossen – und alle kritisieren den Fernunterricht und die Gefahr, dass Schüler zu wenig lernen. Ständig wird das Gegenteil von dem gefordert, was die Politik entschieden hat. Das ist in wenigen Städten so massiv wie in Hamburg.

Wie nehmen Sie die Stimmung bei den Eltern wahr?

Viele Eltern sind besorgt, Schulleiter teilten mir mit, dass sie mittlerweile eine gewisse Gereiztheit feststellen. Das gilt aber sicherlich nicht nur für Eltern. Nach einem Jahr Pandemie sind wir vermutlich alle mit den Nerven ziemlich am Ende.

Hätten Sie sich gewünscht, dass die Schulen länger geöffnet bleiben?

Ja, aber dafür hätte man dann auch einen hohen Preis zahlen müssen. Mehrere europäische Länder sind nach meiner Auffassung mit dem Thema souveräner umgegangen, haben in der Wirtschaft und im Privatleben den Lockdown rigoroser organisiert, dafür aber die Kinder geschützt und die Schulen offen gelassen. Da sind wir in Deutschland offenbar ein besonderer Fall. Wir sind milder gegenüber der Wirtschaft, der Berufswelt und dem Freizeitverhalten der Erwachsenen, aber härter gegenüber Schule und Kita. Welcher Weg richtig ist, weiß zurzeit niemand. Wir wissen zu wenig darüber, welchen Einfluss welcher Lebensbereich wirklich auf die Pandemie hat. Das gilt auch für die Schulen. Meinungsstärke ist beim Thema Schule reichlich vorhanden, Fakten leider weniger. Das ärgert mich.

Verspricht Schulen jetzt eine bessere digitale Ausstattung: Schulsenator Ties Rabe (SPD). (24hamburg.de-Montage)

Was läuft gut beim Homeschooling und in welchen Bereichen ist noch Luft nach oben?

Das zweite Homeschooling läuft erheblich besser als das erste. Vor kurzem haben mir die Schulleiter bestätigt, dass die technischen Voraussetzungen wesentlich besser sind und alle Beteiligten die Möglichkeiten mit größerer Aufgeschlossenheit nutzen. Vor einem Jahr hatten 15 Prozent der Schulen eine gute digitale Ausstattung, jetzt sind es 75 Prozent. Aber 25 Prozent fehlen noch immer. Zudem bringt die intensive Nutzung das System in einigen Bereichen an seine Grenzen. Das zeigt, dass noch einiges zu tun ist.

Kann digitaler Unterricht auf Dauer den Präsenzunterricht ersetzen?

Nein, auf keinen Fall. Die Digitalisierung an den Schulen war nie darauf angelegt, einen Fernunterricht zu ermöglichen. Ziel war und ist es, Schüler auf das Leben und Lernen in der digitalen Welt vorzubereiten. Aber es ging nie darum, den Unterricht in der Schule abzuschaffen. Ich glaube nach wie vor, dass das Lernen allein nicht so gut funktioniert wie in einem interaktiven Prozess.

Der zweite Lockdown läuft seit dem 16. Dezember. Was ist für die Behörde für Schule und Berufsbildung während des laufenden Prozesses zu tun?

Wir arbeiten weiterhin mit Hochdruck daran, die technischen Voraussetzungen zu verbessern. So haben wir beispielsweise im Januar weitere 20 Schulen mit WLAN ausgestattet. Zudem versuchen wir ständig, die Konzepte für den digitalen Unterricht anzupassen. Allerdings wird oft vergessen, dass es in einem so riesigen System Zeit braucht, bis alle Beteiligten die Regeln verinnerlichen und anwenden. Besonders stark beschäftigt uns der zu erwartende Bildungsrückstand. Wir machen uns Gedanken, wie wir damit umgehen, dass trotz Digitalisierung nicht so viel gelernt werden konnte wie sonst.

Welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?

In einem ersten Schritt kommen wir den Schülern bei den Prüfungen entgegen. Gleichzeitig erarbeiten wir längerfristige Förderprogramme für Schüler, die während der Pandemie nicht so gut lernen können. Und natürlich arbeiten wir an Sicherheitskonzepten, um die Schulen möglichst bald wieder zu öffnen.

Welche Schulnote würden Sie sich und Ihrer Behörde für den Umgang mit der Pandemie geben?

Das mögen Eltern, Kinder und Lehrer entscheiden. Es ist gute Tradition, dass sich Lehrer nicht selbst benoten. Deswegen verzichte ich auch darauf. *24hamburg.de ist Teil des Ippen-Digital-Netzwerkes

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