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Darum ist Stuttgart die Hauptstadt der Querdenker und Reichsbürger

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Von: Max Müller

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Es mehren sich Fälle, die mit in Stuttgart verwurzelten Verschwörungserzählungen zu tun haben. Das ist kein Zufall.

Köln – Am Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart beginnt am Mittwoch der Prozess gegen einen „Reichsbürger“. Er soll vor einem Jahr in Boxberg (Main-Tauber-Kreis) durch geschlossene Rollläden auf Polizisten geschossen haben. Dem Mann wird mehrfacher versuchter Mord zur Last gelegt. Er hatte der Anklage zufolge bei einem Polizeieinsatz in seinem Haus zahlreiche Schüsse mit einem Schnellfeuergewehr abgegeben und zwei Beamte verletzt.

Es ist der zweite Fall innerhalb kürzester Zeit, der im Großraum Stuttgart spielt. Das dortige OLG verurteilte vor nicht einmal zwei Wochen einen 62-Jährigen „Reichsbürger“ zu zehn Jahren Haft. Er war vor gut einem Jahr zunächst vor mehreren Verkehrskontrollen geflohen und steuerte dann auf einen Polizisten zu, den er mit seinem Wagen erfasste und schwer verletzte. Das Bundesamt für Verfassungsschutz rechnet der gesamten Szene rund 23 000 Anhängerinnen und Anhänger zu – Tendenz steigend. Im Südwesten sollen es etwa 3800 sein.

2019 wurde die Verschwörungstheorie publik, wonach ein geheimes Tunnelsystem existiere – in Stuttgart. Ein Jahr später gründete Michael Ballweg die „Querdenken“-Bewegung und machte mit seinen Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen Schlagzeilen – in Stuttgart. Im November 2022 zeigte die regionale Querdenker-Szene die Ausstellung „Galerie des Grauens“ zu angeblichen „Impfopfern“ – auf dem Stuttgarter Schlossplatz. Was ist los im Ländle?

„Reichsbürger“ in Stuttgart: „Es gibt regionale Besonderheiten“

David Meiering forscht an der Humboldt-Universität Berlin zu Verschwörungstheorien und beobachtet auch die „Reichsbürger“ schon länger. Sind wirre Theorien im Großraum Stuttgart anschlussfähiger als anderswo? „Da wäre ich vorsichtig“, sagt Meiering. „Es gibt regionale Besonderheiten, die zusammengenommen spannend sind: hoher sozioökonomischer Status, starker Protestantismus und eine starke Verwurzelung des alternativen Milieus. Aber das lässt keine generelle Interpretation zu.“

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Einsatz gegen einen mutmaßlichen „Reichsbürger“: Nach Angaben von Sicherheitskreisen hatte der Mann auf SEK-Beamten geschossen. © Kohls/dpa

Dass Baden-Württemberg zu den reichsten Bundesländern gehört, ist nicht neu. Aber was hat es mit der Kirche auf sich? „Der Pietismus hat eine lange Tradition in Württemberg. Im Kern betont diese protestantische Strömung, dass jeder seinen Glauben individuell leben kann. Das begünstigt natürlich, dass Menschen großen Wert auf Autonomie legen und kritisch gegenüber Hierarchien und Obrigkeiten sind“, sagt Meiering. „Im Gegensatz dazu ist die Katholische Kirche viel stärker von Hierarchien geprägt, was auch eine weniger individuelle Rollenauslegung innerhalb der Kirche bedeutet.“

Protestantisch, wirtschaftlich abgesichert und alternativ: Hier können Verschwörungstheorien andocken

Dazu komme eine weitere regionale Besonderheit: die Verwurzelung des alternativen Milieus. „Wir sprechen hier von Bewegungen, die um 1900 aufkamen. Darunter waren antimoderne Strömungen und gewissermaßen frühe Öko-Bewegungen“, sagt Meiering. Einer der bekanntesten Vordenker: Rudolf Steiner. Er gründete 1918 in Stuttgart die erste Waldorfschule. Die weitere Verbreitung konnte nur funktionieren, weil es in der Region Menschen gab und gibt, die „es sich überhaupt leisten konnten, ihre Kinder auf private Schulen wie die Waldorfschulen zu schicken und alternative Strukturen aufzubauen“, sagt Meiering. „In den heutigen alternativen Milieus gibt es heute eine ausgeprägte Tendenz zum esoterischen Denken, das für Verschwörungstheorien besonders empfänglich ist.“

Protestantisch, wirtschaftlich abgesichert und etwas alternativ: An diesen Mix können Verschwörungstheorien in Württemberg andocken, sagt Meiering. „Vieles, was ‚von oben‘ angeordnet ist – sei es die Empfehlung, sich zu impfen oder der Zwang, sich an Gesetze zu halten – wird kritisch beäugt“, sagt Meiering. Somit liege es in der Natur der Sache, Dinge stärker zu hinterfragen. „Teilweise wird aus dieser Skepsis generelles Misstrauen, das dann auf die politischen Eliten und Institutionen projiziert wird“, sagt Meiering. Die Lösung liegt geradezu auf der Hand. „Man ist grundsätzlich offen für Gegen-Autoritäten, die erklären, wie die Welt ‚wirklich‘ ist“, sagt Meiering.

Wegen „Reichsbürger“: Fünf zusätzliche Richterstellen geschaffen

Das sei allerdings kein Phänomen, das sich nur in Stuttgart beobachten lässt. „Auch in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Hessen, Sachsen-Anhalt oder Bayern beobachten wir ein geringeres Vertrauen in politische Institutionen“, so Meiering. „Die ‚Reichsbürger‘ sind in Bayern und Brandenburg noch weit aktiver, insofern würde ich hier vorsichtig sein.“

In der baden-württembergischen Landespolitik ist man dennoch alarmiert. Weil die Staatsschutzsenate auch durch Verfahren mit Bezug zur „Reichsbürger“-Szene belastet würden, seien mit dem Doppelhaushalt 2023/2024 fünf zusätzliche Richterstellen für das OLG Stuttgart geschaffen worden, sagte die baden-württembergische Justizministerin Marion Gentges (CDU) der Deutschen Presse-Agentur.

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